Ich schaue mir gerne Strassenbahn-, Bus-, U-Bahn-, S-Bahn- und ähnliche Pläne an.
Das hat natürlich einerseits Gründe des Fort- und Weiterkommens. Mein Hotel liegt direkt am HBF, das Schwimmbad, das jeden Tag ab 6.30 auf mich wartet, liegt am Südbahnhof. Wie diese Distanz überwinden? Mit Regionalzug? Mit der S-Bahn? Mit der U-Bahn? Mit dem Tram? Sie werden nun lachen, nach ausgiebigem und ausführlichem und eingehendem Studium der Pläne kam ich darauf, dass die Strassenbahn die beste Variante ist: Die Regionalzüge fahren direkt, aber selten, die S-Bahn fährt oft, nimmt aber einen Riesenumweg über die Konstablerwache und die U-Bahn geht nur, wenn man an der Oper umsteigt. So ist die Linie 16 der Strassenbahn die beste Lösung.
Ich schaue mir aber auch manchmal einfach so die Pläne an. Das ist natürlich etwas nerdig und autistisch, etwas nutzlos und blöd, aber mal ganz ehrlich: Wenn ich nun 20 Minuten auf TikTok wäre, und wenn ich dort 100 kurze Videos angucken würde, dann wäre das genauso doof, würde aber keinen wundern.
Der Plan also. Ich studiere die Tram- und Buslinien, lerne die U-Bahnen auswendig, lese die S-Bahnen und suche nach Schiffen und Bergbahnen. (Randbemerkung: Hier bin ich also schon ein echter Schweizer, aber natürlich gibt es im Rhein-Main-Gebiet keine Bergbahnen und keine Schiffsrouten – warum eigentlich, Wasser wäre ja da und der Taunus auch, aber wir schweifen ab…) Und während ich nun also die Buslinien und die Trams studiere und die U-Bahnen auswendig lerne und die S-Bahnen lese, da fällt mein Blick auf zwei erstaunliche Endhaltestellen der Strassenbahnen:
Offenburg Stadtgrenze
Neu-Isenburg Stadtgrenze
Die Strassenbahn fährt also scheinbar genau bis zur Markierung zwischen den Gemeinden Frankfurt am Main einerseits und den Gemeinden Offenburg und Neu-Isenburg.
Was mag das für Gründe haben?
Vielleicht – so vermutet der Märchenmensch in mir – gibt es einen magischen Kreis, einen Kreis, der an der Stadtgrenze endet, und wenn man diese magische Grenze überschreitet, dann passiert Schreckliches, dann zittert der Himmel und bebt die Erde, dann holt einen der Teufel, weil man nur bis zur Grenze durfte, so wie der Teufel bei Ramuz ja dem Soldaten eingeschärft hat, die Landesgrenze nicht zu überschreiten:
Ja, so weit ging alles gut.
Aber nun seid auf der Hut!
Bis zur Grenze, dann gebt Acht!
Seid sonst neu in meiner Macht!
Geht nicht zu weit! Sonst, Freund, ich wett
Muss Madame erneut ins Bett.
Und was euch betrifft, Herr Prinzgemahl:
Auch die Geduld des Teufels reisst einmal!
Schlepp ihn stracks hinab zur Höll,
Brat am Spiess ihn auf der Stell.
Nun, aber so eine magische und mythische Erklärung ist doch – und hier muss ich dem Märchenmenschen in mir widersprechen – sehr unwahrscheinlich. Es würde kein Monster und kein Teufel auf mich lauern, wenn ich die Stadtgrenze überschritte.
Wenn man Frankfurter, echte Frankfurter, gestandene Einheimische und wirkliche Hiesige befragte, würden die Frankfurter, die echten Frankfurter, die gestandenen Einheimischen und die wirklichen hiesigen eine klare Antwort abgeben: Es ist erstaunlich, dass die Strassenbahn überhaupt so weit fährt. Was soll der Mensch in Neu-Isenburg? Was soll der Mensch in Offenbach? Echte Frankfurter, die gestandenen Einheimischen haben eine eindeutige Meinung: dreckig, hässlich, wüst, unnötig, kriminell, scheusslich, einfach die unschöne kleine Schwester, die Lea mit den «blöden Augen», die Widerspenstige, die nicht zu zähmen ist, ein Rattenloch, eine Schlangengrube.
Die gleiche Ansicht – mit etwas anderen Worten – würden auch Mannheimer über Ludwighafen abgeben.
Und viele andere Städte über die Orte, an denen man die notwendige Industrie angesiedelt hat, die man in der eigenen Gemeinde nicht haben wollte. Oder das Klärwerk. Oder das Gefängnis. Oder die Müllverbrennungsanlage.
Der Grund für das Das-Tram-fährt-bis-zur-Stadtgrenze ist aber viel einfacher:
Man konnte sich bisher nicht über die Kosten einigen. Auch dieses Spiel ist ein sehr altes, wir haben das in Basel auch schon x-mal erlebt und erleben es noch. Die eine Stadt ist das Zentrum, die Mitte, in der man einkauft, arbeitet, Kultur und Freizeit erlebt. Die anderen Gemeinden sind die Wohn- und Schlafgemeinden. Diese erwarten nun von der grossen, das sie gefälligst die Infrastruktur zahlt, denn sie habe ja auch die Einnahmen. Das Zentrum, die Mitte sieht das genau anders, die Leute würden ja billig im Umland wohnen, nun könnten diese Gemeinden ja auch das Tram zahlen…
Und so streitet man sich.
Und streitet.
Und streitet.
Bis man sich – meistens – auf 50% / 50% der Kosten einigt.
Aber so ist der Mensch.
Nein, ich habe es nicht zu beiden Grenz-Haltestellen geschafft. Obwohl ich das sehr gerne getan hätte: Nicht nur auf dem Plan die Tramlinien abfahren, sondern in Wirklichkeit.