Dienstag, 30. Juli 2024

Das Jahr der 2. Chancen

 

Das Jahr 2024 ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Wunderbar.

Es ist nicht, wie im Film «Doppelmord», in dem der Chef eines Wohnheimes für Frauen auf Bewährung kritisiert wird, weil er eine von ihnen wegen Zuspätkommens wieder in den Knast zurückbefördern lässt:
«You should have given her a second chance»
«This is not a house of second chances. This is a last chance house.»

Nein.
2024 ist kein Letze-Chance-Jahr. Es ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Nehmen wir doch ein paar Beispiele:

1)
Sie haben Ihren Job als Ballettchef verloren, weil Sie einer Kritikerin einen Shitstorm geliefert haben? (Und wir meinen nicht einen Shitstorm im neuen, übertragenen Sinn, nein, Sie haben die gute wirklich und wahrhaftig mit Scheisse beworfen.)
Kein Problem.
2024 ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Sie bekommen Ihre Zweite Chance.
Das Theater Basel gibt Ihnen den Posten der Ballettdirektion.

2)
Sie haben Ihren Posten als Dirigent verloren, weil sie zweideutige Sachen per Handy verschickt haben? Wobei hier «zweideutig» wahrscheinlich auch das falsche Wort ist. Denn ein Penis, ein Glied, ein (Entschuldigung) Schwanz ist nun ziemlich eindeutig, und man verschickt den nicht per SMS – nicht einmal an seine Urologin (siehe neulich). Sie haben nun mehrere Menschen mit Wort und Bild belästigt?
Kein Problem.
2024 ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Sie bekommen Ihre Zweite Chance.
Das Sinfonieorchester des SWR gibt Ihnen (wieder) den Posten als Chefdirigent.

3)
Sie haben Ihre Stelle als Verkäuferin bei der Migros verloren, weil Sie geklaut haben? Weil Sie als Insiderin natürlich dachten, Sie wissen, wie die Ladendetektive aussehen und wo sie gerade stehen und weil Sie der Meinung waren, dass die Migros von ein paar Edelkonserven weniger nicht arm wird? Und nun hat man Sie doch erwischt? Erwischt und rausgeworfen?
Kein Problem.
2024 ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Sie bekommen Ihre Zweite Chance.
COOP, der ewige Konkurrent der Migros, freut sich, Ihnen eine Stelle als Detailhändlerin anzubieten – trotz der hässlichen kleinen Flecken im Lebenslauf.

4)
Ihre Frau hat Sie verlassen? Weil Ihr Verhalten doch immer mehr ins Asoziale neigte? Weil zu Ihrer Muffigkeit, Mieslaunigkeit, zu Ihrer Schlamperei und Ihrem Macho-Gehabe halt noch die Sauferei dazukam und nun auch – schlimmste aller Möglichkeiten – häusliche Gewalt? Weil sie sie grün und blau geschlagen haben im Suff?
Kein Problem.
2024 ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Sie bekommen Ihre Zweite Chance.
Ihre Frau wird zu Ihnen zurückkehren und Ihnen glauben, dass Sie sich bessern können. Und zwar wirklich. Angefangen mit einem Entzug.

Wenn wir nun diese vier Beispiele anschauen, dann müsste man denken, dass 1) und 2) sicher sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich sind und 3) und 4) eher möglich.
Tatsächlich ist es aber genau umgekehrt. Der Ballettchef und der Dirigent sind ja durch die Presse gegangen. Von anderen Fällen habe ich nichts gehört.
Liegt es an den Delikten?
Drehen wir doch einmal um:
Der Ballettchef stiehlt – oder er veruntreut Geld aus dem Budget.
Der Dirigent kommt besoffen aufs Podest und ohrfeigt den Konzertmeister.
Die Verkäuferin wirft einem Kunden Scheisse ins Gesicht.
Der Mann wird verlassen, weil er Penisbilder an andere Frauen verschickt hat.
Ändert nichts!
Ändert nichts!
Es scheint also doch am gesellschaftlichen Status zu liegen.

Also modifizieren wir:
Alles kein Problem.
2024 ist das Jahr der Zweiten Chancen.
Sie bekommen Ihre Zweite Chance…
… wenn Sie ein Promi sind.

Freitag, 26. Juli 2024

Welche Bastionen fallen noch?

Manchmal sollte man gar nicht anfangen zu denken. Ich habe im letzten Post darüber nachgedacht, wie es ist, wenn eine kulturelle Bastion wie Bayreuth wankt. – Nachdem ich im vorletzten Post mich darüber beklagt hatte, dass Sprecherinnen und Sprecher des SWR über die Musik quatschen. Und nun denke ich darüber nach, was noch alles kippen könnte.
Und man sollte einfach nicht zu sehr nachdenken.
Man kommt auf die tollsten Ideen:

JEDERMANN

…geht natürlich gar nicht mehr. Etwas Unfeministischeres, Machohafteres, Undiverseres als Jeder-Mann gibt es ja wohl kaum. «Jedermann» wird also in «Jedermensch» umbenannt. Und auf dem wunderbaren Domplatz von Salzburg hallt dann eben nicht mehr die Stimme mit
…Jedermann!...
…Jedermann!...
…Jedermann!...
sondern eine genauso sonore, eine genauso tiefe, genauso dröhnende Stimme mit
…Jedermensch!...
…Jedermensch!...
…Jedermensch!...
Ein klitzekleines, winziges, mikroskopisches Problemchen ergibt sich noch im Text. Und dieses klitzekleine, winzige, mikroskopische Problemchen ist der Reim. Im Buch von Hofmannsthal wird gereimt und auf «Mann» reimen sich halt 1000 Wörter wie «kann», «an», «Bann», «heran», usw. Auf «Mensch» reimt sich nix. Gar nix. Wenn wir von der US-Farm absehen. Aber was hat eine «Ranch» im Text zu suchen? Vielleicht müsste man den ganzen Hugo-von-Text kippen und eine moderne Prosanachdichtung machen…

RADETZKY-MARSCH

Jeder kennt natürlich das dadadam-dadadam-dadadamdamdam, das jedes Jahr das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker beschliesst. Und die Melodie ist ja auch ganz lustig. Man könnte sich aber am Namensgeber stören. Denn Johann Josef Wenzel Anton Franz Karl Graf Radetzky von Radetz war ein Feldmarschall. Also Militarist. Nun könnte jemand einwenden, dass in der damaligen Zeit ja wohl jeder Adlige auch ein Heermensch war und das kein Baron oder Graf NICHT zur Armee gegangen ist, es sei denn, er hätte nur einen Arm, nur ein Bein gehabt und wäre zusätzlich blind gewesen. Aber Johann Josef Wenzel Anton Franz Karl Graf Radetzky von Radetz war ein ganz bedeutender Heerführer – und sollte man in Zeiten globaler Aufrüstung nicht etwas Friedvolles und Anti-Militärisches spielen? Und so wird beim Neujahrkonzert 2025 aus dem Wiener Musikverein nicht der Radetzkymarsch gespielt, sondern «Imagine».
Oder «Blowing in the Wind.»

LAND OF HOPE AND GLORY

Das Trio des Marsches «Pomp and Circumstance» von Edward Elgar ist nach der offiziellen Königshymne und dem netten Song, der Britannien zum Führen auffordert, so etwas wie die dritte Hymne des Vereinigten Königreichs. Und wenn diese schöne Melodie bei der «Last Night of the Proms» erklingt, dann singen alle mit: Daaa-dada-da-daaa-daaa…
Aber ist UK noch das Land der Hoffnung und des Ruhmes? Und ist dieses Lied nicht ein Lied eines weltmächtigen, weltführenden Reiches? Wäre nicht etwas Europäisches, etwas Integratives, etwas weniger Angeberisches viel angebrachter?
Ja, und so wird bei der nächsten (oder übernächsten) «Last Night» nicht mehr den Marsch von Edward Elgar gespielt, sondern die Europa-Hymne, «Freude, schöner Götterfunken» aus der Sinfonie IX von Herrn Beethoven.

WELCHE TRADITIONEN KÖNNTE MAN NOCH KIPPEN?

Natürlich jede.
Oder keine.
Denn das Schöne an einer Tradition ist doch, dass sie sich nicht ständig rechtfertigen muss. Sie ist irgendwann entstanden. Und ist irgendwann geblieben.
Niemand drückt das besser aus als Tevje:

Dank unserer Tradition haben wir bisher unser Gleichgewicht seit vielen, vielen Jahren gehalten
Hier in Anatevka haben wir Traditionen für alles

Nun werdet ihr fragen, wie es mit diesen Traditionen angefangen hat.
Ich werde es euch sagen: Ich weiß es nicht.
Das ist eben Tradition.

Manchmal sollte man gar nicht anfangen zu denken. Ich habe darüber nachgedacht, wie es ist, wenn eine Wagner-Bastion wie Bayreuth wankt. – Nachdem ich in einem anderen Post mich darüber beklagt hatte, dass im SWR über die Musik gequatscht wird. Und nun denke ich darüber nach, was man noch alles kippen kann.
Und man sollte einfach nicht nachdenken.
Man kommt auf Ideen…