Neulich traf ich Horik, einen Freund, der beim Kulturradio arbeitet. Er war relativ verzweifelt, denn der Redakteur der Sendung, in der sonntags von 6.00 bis 8.00 Musik gespielt wird, hatte ihm ein Ei gelegt: Den Gefangenchor aus Nabucco. Wie sagt man ein solches Stück – das ja ein einem Kultursender gar nicht gespielt werden sollte – auf die richtige Art an? Mein armer Freund hatte sich drei Moderationen zurechtgelegt:
Das Lied Va, pensiero, sull’ali dorate („Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen“, auch als Gefangenenchor oder Freiheitschor bezeichnet) ist ein Chorwerk aus dem dritten Akt der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi. Das Libretto stammt von Temistocle Sera, der Psalm 137 zum Vorbild nahm. Der Chor der Hebräer, die in Babylonien gefangen sind, beklagt das ferne Heimatland und ruft Gott um Hilfe an. Der Chor gilt als berühmtester aller Verdi-Chöre.
Sie hören Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Sir Donald Runnicles.
Am Samstag, den 12. März, standen das Symphonieorchester und der Chor des ukrainischen Opernhauses Odessa vor dem verbarrikadierten Konzertsaal, um ein Konzert für den Frieden zu geben. Die Musiker spielten vor dem Opernhaus aus dem 19. Jahrhundert ein Musikprogramm, darunter "Va, Pensiero" aus Verdis Oper Nabucco. "Va, Pensiero", auch bekannt als "Chor der hebräischen Sklaven", wird im dritten Akt der Oper gesungen, als die Israeliten gefangen genommen und in Babylon gefangen gehalten wurden. Ergreifend enthält der Refrain den Text "Oh mein Land so schön und verloren!". Die Videos des Konzerts wurden vom Journalisten Alonso aufgenommen.
Heute hören Sie aber nicht diese Aufnahme, sondern Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Sir Donald Runnicles.
Sie erinnern sich vielleicht: Es war 1972, als Schlagersänger Freddy Breck, nach einigen erfolglosen Versuchen, die Idee zu einem Hit hatte, der sein Leben verändern sollte. Verdis Gefangenenchor aus der Oper Nabucco wollte er in ein neues, modernes Schlagergewand hüllen. Die Plattenfirma war anfangs skeptisch, bot dann aber sogar den Botho Lukas Chor mit 74 Sängerinnen und Sängern sowie ein ganzes Orchester zur Untermalung auf. Das Ergebnis war zunächst umstritten und wurde «überall auf der Welt» von den Radiostationen vorerst geächtet. Ein Radiomoderator soll sogar auf Sendung gesagt haben: «Den folgenden Titel von einem neuen Sänger namens Freddy Breck hören Sie nur zwei Mal, nämlich das erste und das letzte Mal!» Dann zerbrach er die Scheibe am Mikrofon und warf sie hörbar in den Papierkorb. Aber Freddy Brecks Hit war da schon nicht mehr aufzuhalten. «Überall auf der Welt» wurde millionenfach verkauft. Weitere Hits wie «Bianca», «Rote Rosen» oder «Der grosse Zampano» sollten folgen. Heute hören Sie aber nicht diese Aufnahme, sondern Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Sir Donald Runnicles.
Horik seufzt.
Das sei so schwierig, meint er, wie könne man auch ein so abgedroschenes Stück immer noch auf die Liste setzen.
Die erste Ansage sei simpel und korrekt, aber eben todlangweilig. Das locke keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Da könne man den Hörerinnen und Hörern gleich Wikipedia vorlesen.
Die zweite sei natürlich aktuell, aber fast zu aktuell, und er werde sich auf jeden Fall zwischen alle Stühle und in die Nesseln setzen. Die einen würden ihm vorwerfen, Teil einer Militärpropaganda zu sein, die anderen «Russischer Angriffskrieg» und den Hinweis vermissen, dass mit genügend deutscher Panzern und Flugzeugen der Chor nicht mehr gesungen werde müsste…
Und die Breck-Story, frage ich, die sei ja echt witzig.
Ja, meint Horik, aber eben schon lange her, man müsse doch auch Leute unter 40 ansprechen, und für die sei «Bianca» eben keine Melodie mehr, die sie kennen.
Wobei «Bianca», so witzele ich weiter, eigentlich eine italienische Melodie sei, die dann von Tschaikowski verwurstelt wurde, und hier könne man doch über Ukraine – Va pensiero – Breck – Bianca – Tschaikowski – Russland wieder einen Riesenbogen basteln. Vielleicht noch den «Sir» Runnicles zusammen mit diversen Offizieren britischen Armee nennen, die auch diesen Titel haben.
Aber Horik ist nicht zu Spässen aufgelegt.
Er mault noch eine Weile und trollt sich dann seines Weges.
Ich denke selber noch lange über eine passende Ansage nach, bin dann aber zwei Tage später über Horiks Moderation echt erstaunt:
Es gibt überall Mobbing. Auch hier im Sender. Zum Beispiel ein so abgelutschtes Stück wie Va Pensiero aufs Programm zu setzen. Das ist Mobbing am Hörer. Und Mobbing am Mensch am Mikrofon, der nicht weiss, wie man den Mist ankündigt. Gut, hier also der Gefangenchor aus Nabucco, musiziert von Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Leitung von Donald Runnicles. ICH habe ihn nicht ausgesucht.
Ich treffe Horik drei Tage später. Es gab, so er, einen Riesenärger. Dann aber wurde wegen ganz, ganz, ganz, ganz vieler Zuschriften eine Kündigung ausgesprochen. Nein, nicht er. Der Musikredakteur, der die Auswahl trifft, muss seinen Hut nehmen.
Damit konnte man z.B. auch noch Dinge wie «Die Halle des Bergkönigs» verhindern.
P.S. Die drei ersten Ansage-Texte hatte Horik (wie ich merkte) aus dem Internet.
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