Dienstag, 6. Juli 2021

Wäre man als XY glücklicher?

Peter hat sich mit 19 Jahren für Rechtswissenschaften eingeschrieben. Das war ein Fehler, sagt er jetzt, er wäre mit Germanistik und Philosophie besser gefahren. Er wählte sich als Studienort für Jura Freiburg im Breisgau. Das war ein Fehler, sagt er jetzt, er hätte lieber seine Zelte in Göttingen aufgeschlagen. Nach seinem Studium fing in einem grossen Wirtschaftsunternehmen in Hannover an. Das war ein Fehler, sagt er jetzt, er wäre mit einer Laufbahn am Gericht glücklicher geworden. Bei der Zuhnbahn AG, jenem grossen Unternehmen, lernte er dann auch Julia kennen, seine heutige Ehefrau. Das war ein Fehler, sagt er jetzt, natürlich nicht sie kennen zu lernen, sondern sie zu heiraten. Und Fehler waren auch Marco (9), Tim (7) und Luis (5).

Und Julia? Julia hat in Göttingen Germanistik, Philosophie und Soziologie studiert. Das war ein Fehler, sagt sie jetzt, sie hätte viel lieber das Angebot ihres Onkels annehmen sollen. Er hatte ihr vorgeschlagen, für vier Jahre zu ihm nach Maryland zu ziehen und in seinem Atelier das Malen zu lernen. Nach dem Studium fand sie eine Stelle bei der Zuhnbahn AG, im Human Ressources. Das war ein Fehler, sagt sie nun, sie hat das Geld gelockt, ihre Fächer haben ja so etwas Brotloses, da kann das schon toll klingen, richtiges Geld zu verdienen, aber sie hätte dennoch weitermachen sollen in den Geisteswissenschaften und eventuell in Richtung Museum oder Theater gehen. Und dann Peter. Ein grosser Fehler, ein grosser, ein sehr grosser, es hätte ja auch noch einen Robert und einen John und einen Hans gegeben, Peter war ein Fehler, nicht als Affäre aber als Mann, ob sie jetzt auch Marco (9), Tim (7) und Luis (5) als Fehler sieht, dazu will Julia sich nicht äussern.

Marco (9), Tim (7) und Luis (5) haben sich über Entscheidungen in der Vergangenheit bisher noch keine Gedanken gemacht, keine über «hätte» und «wäre». Denn bislang haben die Eltern die Entscheidungen für Marco (9), Tim (7) und Luis (5) getroffen. Und die Vergangenheit von Marco (9), Tim (7) und Luis (5) ist auch noch nicht so lang. Die erste schwere Entscheidung muss Marco bald treffen: Geht er ans Heinrich-Heine-Gymnasium (altsprachlich) oder ans Geschwister-Scholl-Gymnasium (neusprachlich) oder ans Max-Planck-Gymnasium (mathematisch-naturwissenschaftlich)? Hier könnte er schon mal eine Fehlentscheidung treffen.

Für oben genannten Onkel allerdings sieht die Bilanz genauso mau aus:
Amerika war ein Fehler. (Europa wäre besser gewesen.)
Maryland war ein Fehler. (Chicago wäre besser gewesen.)
Die Malerei war ein Fehler. (Musik wäre besser gewesen.)
Das Atelier war ein Fehler. (Kein Atelier wäre billiger und wäre besser gewesen.)
Theresa war ein Fehler. (John oder Jim oder Bob wären besser gewesen.)
Ann (21) und Daisy (23) waren Fehler.

Hätte.
Ein blödes Wort.
Hätte nicht sollen.
Blöde Worte.
Könnte – würde – käme
Blöde Worte.

Wieso meinen wir alle, wir wären glücklicher, wenn wir uns an einem Punkt im Leben anders entschieden hätten? Wieso denkt Peter er wäre als??? in ??? und ohne Julia glücklicher, wieso denkt Julia sie wäre als Künstlerin an der Ostküste und ohne Peter glücklicher und wieso wird
Marco (9) einmal denken, am anderen Gym wäre er glücklicher gewesen und wieso denkt der Onkel er wäre als Gitarrist in Chicago und mit einem schwulen Leben glücklich?
Wieso?

Also ganz ehrlich: Ich denke das nicht. Ich habe alles im Leben richtig gemacht. Na ja, fast alles. Man könnte es aber auch wie mein verehrter Dirigierlehrer sagen:

Ich habe eigentlich
Alles im Leben falsch gemacht,
aber ich habe Leute, die das mitmachen.



(Manfred Schreier)

Wenn ich mir den Rolf vorstelle, wie er geworden wäre, dann habe ich Zweifel, ob er glücklicher wäre als ich jetzt – so könnte ich über ihn reden:
Ich treffe heute Rolf Müller aus Titisee-Neustadt, ich treffe ihn zufällig in einem ICE Richtung Zürich, und beim sich zufällig ergebenden Reden stellt sich zufällig heraus, dass Rolf Ich ist, oder nein, Rolf ist maxfrischmässig das, was ich geworden wäre, hätte ich vor dreissig Jahren die Weichen anders gestellt.
Rolf hat 1991 das Examen in Schulmusik und 1992 das Examen in Latein gemacht und 1993 bis 1995 das Referendariat in Villingen absolviert. Danach war er 20 Jahre Lehrer in Tuttlingen und später dann in Titisee-Neustadt. Zurzeit ist er Oberstudiendirektor, hat ein Haus mit Kiesauffahrt, drei Söhne, zwei Hunde, einen grossen Garten und eine liebe Ehefrau. (man beachte, scheisse (sit venia verbo) nochmal die Reihenfolge, die ist von ihm…), neben seinen Aufgaben am Gymnasium spielt er die alle drei Wochen die Orgel in St. Bilbus, und er leitet einen Männerchor und einen Musikverein.

Dieser Rolf wäre sicher nicht glücklicher.

P. S. mit «maxfrischmässig» beziehe ich mich natürlich auf "Biographie – ein Spiel" und wenn Peter, Julia und der Onkel es machen würden wie die Hauptfigur, dann würden sie sich an der entscheidenden Weiche gar nicht anders entscheiden…









  

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