Ich sitze über einem Test für meinen Lieblingsschüler Sajin. Sajin hat in den letzten Wochen mit mir Misery von Stephen King in einer Reader-Ausgabe gelesen und muss nun zeigen, was er von dem Roman behalten hat. Ich mache ein Matching (Zuordnen) mit 10 Punkten, ein Multiple Choice mit 10 Punkten und ein True/false mit 10 Punkten. Man beachte hier übrigens, dass im Englischtest natürlich schon das Verstehen der Frage die Aufgabe ist. Dennoch rümpft meine Freundin Anne, die mir beim Schreiben über die Schulter schaut, die Nase: „Multiple Choice? Du machst Multiple Choice? Und Matching? Und True/False? Das ist doch alles viel zu einfach.“
Anne ist Germanistin und so stelle ich sie spontan auf die Probe: „Ach, zu einfach? Ok. Dann machen wir das doch mal mit dir:
„In welchem Roman gibt es eine Figur namens Meta Nackedey?“
Anne grinst über das ganze Gesicht, wahrscheinlich war die Frage doch zu einfach. Aber ich fahre fort:
a) Der Zauberberg b) Felix Krull c) Die Buddenbrooks d) Doktor Faustus
Ich habe selten ein Lächeln so in den Keller rasen sehen. Im Film Terms of Endearment fällt Shirley MacLaine das Gesicht hinunter, als sie ihren Lover (Jack Nicholson) verabschiedet und ihr Enkel, aus dem Auto steigend, „Grandma! Grandma!“ brüllt. Anne toppt hier Shirley beinahe. (Beiseite: das war übrigens jener Film, für den die MacLaine ENDLICH ihren Oscar kriegte und die berühmten Worte „I earned it!“ sprach…)
„Ok“, sage ich, „Ok, du hattest natürlich gehofft, dass ich dir so etwas wie
a) Gruppenbild mit Dame b) Die Blechtrommel c) Kleiner Mann, was nun d) Doktor Faustus
präsentieren würde. DANN wäre nämlich alles klar gewesen, DANN hättest du es gewusst, denn dass es Thomas Mann ist, war dir klar, aber wenn ich NUR Mann-Texte aufzähle, dann kommst du ins Schleudern.“ Anne denkt 15 Minuten angestrengt nach. Dann verkündet sie triumphierend: „Die Klavierlehrerin! Klavierlehrerin, ein verhuschtes, ewig errötendes Geschöpf in den Dreißigern, mit Zwicker und blinzelnden Augen, hat einmal ihre Hemmungen überwunden und den verehrten Komponisten in der Münchner Strassenbahn angesprochen.»
«Gut», sage ich, «gut, aber mal ehrlich: War das EINFACH?»
Wir müssen – so glaube ich – Abschied nehmen von der Vorstellung, was einfach und was schwierig ist. Wenn Multiple Choice so einfach, so kinderleicht, so pipifaxmässig wäre, warum würden dann Mediziner beim Physikum damit geprüft? Nein, es kommt immer auf die Ausführung einer solchen Aufgabe an.
In meinem Examen der Klassischen Philologie des Lateinischen zur Erlangung der Gymnasialen Lehrbefähigung mit Kleiner Fakultas kam ein Cicero-Text dran. (Zur Erklärung: Examen der Klassischen Philologie des Lateinischen zur Erlangung der Gymnasialen Lehrbefähigung mit Kleiner Fakultas heisst, dass ich zur Schulmusik ein Zweitfach studiert habe und dann mit dem Examen der Klassischen Philologie des Lateinischen zur Erlangung der Gymnasialen Lehrbefähigung mit Kleiner Fakultas bis zur 10. Klasse hätte unterrichten dürfen können, aber dann kam ja alles anders – das gibt auch einmal einen Post…)
Jedenfalls: Der Cicero-Text. Als mein Prüfer einem Kollegen gegenüber erwähnte, er habe einen Cicerobrief genommen, da bekam er zu hören, nun müsse er aber entsprechend scharf korrigieren, wenn er schon so einfache Texte wähle. Mein Prüfer zeigte dann die Stelle und der Kollege musste schlucken…
Der Text war hammerschwer.
Und wenn mein Prüfer nicht Milde hätte walten lassen, dann wären wir alle durchgefallen, und wir hätten ausser dem Frust Spott und Schande gehabt, denn an einem Cicero zu scheitern ist in den Augen der Allgemeinheit so, wie als Nationalmannschaft 0:4 gegen San Marino zu verlieren oder es nicht zu schaffen, ein Essen mit Nudeln und Fertigpesto zu fabrizieren.
Nein.
Wir müssen immer neu nachdenken, was eine schwere und eine leichte Aufgabe ist.
Ist das Lehramt in Offenbach-Nord oder in Schlangenbad (Taunus) eine schwerere Aufgabe? In Offenbach-Nord haben Sie es mit unmöglichen, renitenten und gemeinen Schülerinnen und Schülern zu tun, in Schlangenbad (Villenort) mit unmöglichen, renitenten und gemeinen Eltern. Was wollen Sie lieber hören: «Isch mach disch kald!» oder «Ich habe einen guten Anwalt!»? Sehen Sie.
Was ist die schwerere Arie: «Ach, ich fühl`s» oder «Un bel dì, vendremo»? Jeder oder jede wird natürlich sagen, Puccini sei schwerer als Mozart, aber wenn dem so wäre, warum ist dann das Probestück für Profichöre «Ach, ich fühl`s» und nicht «Un bel dì, vendremo»?
Und was ist in den letzten Kriegstagen eine einfache Aufgabe für ein paar unerfahrene Teenies? Sicher das Bewachen einer Brücke. Was das für ein Trugschluss ist, hat Wicky in seinem phänomenalen Film Die Brücke dargestellt.
Sajin hat übrigens in dem Test über Misery Bestnote erzielt. Und zwar nicht, weil alles zu einfach war. Sondern weil er gut ist.
Hier noch eine (sauschwere) Aufgabe für Kenner meiner Person: Wo bin ich geboren?
a) Stuttgart-Nord b) Stuttgart-Ost c) Stuttgart-Süd d) Stuttgart-West
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