Der Januar ist der Monat der Jahresbriefe. Ab dem 2. oder 3. schneien sie ins Haus, manche hochwillkommen und erwartet, manche mit spitzen Fingern aus dem Briefkasten geholt, manche belächelt und begrinst, manche verärgert weggeworfen…
Was viele Schreiber nicht begreifen, ist das, was in der Schreibdidaktik als „ziel- und adressatenorientiertes Schreiben“ bezeichnet wird, also schlicht und einfach und simpel und klippklar die Frage, an wen ein Schreiben geht und was man damit erreichen will. Also hier konkret:
Geht ein Jahresbrief an die Freunde, und nur an die Freunde, dann kann man auch über Schlimmes und Negatives, über Übles und Böses berichten, denn Kennzeichen einer Freundschaft ist es ja, dass man mit dem / der anderen durch Dick und Dünn geht, in guten wie in schlechten Tagen… Da kann man dann auch z. B. schreiben:
Im März geriet unsere Beziehung in eine kleine (oder eher grosse) Krise, die darin gipfelte, dass Marta versuchte, mich am 15. 3. aus dem Fenster zu stossen.
Das kann man in einem Brief an flüchtige Bekannte, Notwendigkontakte und Geschäftspartner natürlich nicht. Ein Jahresbrief an flüchtige Bekannte, Notwendigkontakte und Geschäftspartner hat einzig die Funktion, Präsens zu markieren, also den flüchtigen Bekannten, Notwendigkontakten und Geschäftspartnern zu zeigen: Wir sind noch da! Es gibt uns noch! Da stehen dann so Sätze wie
Im März widmeten wir uns – nachdem wir uns in den ersten beiden Monaten voll dem Unternehmen gegeben hatten – auch wieder mehr persönlicher Bedürfnisse.
(dem Gattenmord, siehe oben, aber das wird man flüchtigen Bekannten, Notwendigkontakten und Geschäftspartnern sicher nicht schreiben…)
Am nettesten, schönsten sind dann sicherlich die Jahresbriefe an die FEINDE. Hier hat man nur ein einziges Schreibziel: Neidisch machen. Immer schwingt ein «und du nicht…», ein «und du nur…» und ein «und du stattdessen…» mit. In diesen Jahresbriefen stehen dann Sätze wie
Im Februar lud uns der Präsident des Bundesverbandes zur alljährlichen Tagung nach Sylt ein. (Und dich nicht!) Im Mai durften wir vier Wochen in New York verbringen. (Und du nur zwei in München!) Im Juli besichtigten wir auf dessen Einladung das Château des letzten lebenden Baron de Montbéliard. (Und du nur das örtliche Wasserschloss!)
Ganz verkehrt ist es, die verschiedenen Adressaten und Ziele zu vermischen, das gibt dann so eine Epistel, die zwischen allen Stühlen hin und her eiert und einen wüsten Slalom zwischen allen Bänken fabriziert: Im Juli lud der GHK meine Firma (dies für Notwendigkontakte und Geschäftspartner) nach Las Vegas ein (für Feinde: Neid, Neid, Neid…), was sich aber als ein schlimmer Ort herausstellte. (Freunde).
Das Jahr 2020 hat nun ein neues Genre hervorgebracht:
Den Konjunktiv-Jahresbrief.
Wir wollten ja alle so viel in jenen vergangenen 365 Tagen, wir wollten so viel im 2020, wir wollten so viel in diesen 12 Monaten, aber das ging ja alles nicht. Das Schöne ist: Alle Behauptungen sind nicht nachprüfbar, man kann das Blaue vom Himmel herunterlügen, niemand kann einem etwas anhaben. Und so sitze ich gerade an einem Brief für meine Feinde, der von solchen Konjunktiven nur so strotz:
Mitte März wäre ich eigentlich in Berlin gewesen, um den RIAS-Kammerchor in drei Konzerten zu dirigieren (Schütz, Brahms, Lachenmann) natürlich fielen Schütz, Brahms, Lachenmann dem Lockdown zum Opfer, genauso wie mein Debut in Stockholm. Danach wollten wir eigentlich uns ein paar schöne Shopping-Wochen in New York, auch das natürlich nicht möglich. Immerhin erfreuten uns die Fondation Beyeler mit zwei tollen Ausstellungen (als Ersatz für die grosse Degas-Retrospektive in Tokio) und das Gartenbad Joggeli (als Ersatz für die Bahamas). Im November und Dezember wären dann wieder Weihnachtskonzerte mit dem SWR Vokalensemble in Hamburg, Paris, Rom und Prag auf dem Plan gewesen, auch das fiel dem Virus zum Opfer.
Und während ich noch WÄRE und HÄTTE und HÄTTE und WÄRE schreibe, denke ich darüber nach, ob man mir glauben wird.
Wahrscheinlich nicht.
Es scheint ja nur zunächst nur so demokratisch und liberal, es scheint nur zunächst so, dass hier alle gleich sind, wenn alle nichts machen können, wenn alle nichts kaufen können, wenn alle nicht reisen können, dann sind doch alle gleich:
Ina Böllmann kann keine Sneakers kaufen (45,90) und Irina Beller keine Pumps (4590.--)
Ina Böllmann kann nicht nach Malle (1 Woche VP 659.--) und Irina Beller nicht ins Negresco (1 Nacht 859.--)
Ina Böllmann kann nicht in den Burger King (Whopper Menü 6,99) und Irina Beller nicht ins Chez Hugo (Degustationsmenü 169.--)
Es sind aber nicht alle gleich.
Nein.
Es ist noch ungleicher als vorher: Konnte vor Corona Frau Böllmann mal noch richtig sparen und konnte sie dann ihre Pumps zeigen und schreien: «Habe ich mir gegönnt!», dann wird jetzt kein Mensch glauben, dass sie sich diese Schuhe kaufen wollte, aber dass es leider nicht ging…
Nein, ich denke, ich werde den Konjunktiv-Brief sein lassen und es wie jedes Jahr machen:
Gar keinen schreiben. Denn meine Freunde kontaktiere ich persönlich, flüchtige Bekannte, Notwendigkontakte und Geschäftspartner brauche ich keine und Feinde besitze ich nicht.
Wirklich.
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