Wenn ich mein Leben so anschaue, dann ist es eine Abfolge von vertanen Chancen gewesen. Ich habe ja versprochen, Ihnen über das zu schreiben, was ich nicht geworden bin. Und wenn ich das jetzt so bedenke, sehe ich schon, dass da extrem viel zu holen gewesen wäre.
Meine erste vertane Chance war die, der Stuttgarter Modepapst zu werden, der – wie es damals geheissen hätte – Super-Trendsetter oder – wie man heute sagen würde – Super-Influencer. Meine Grosstante lebte in Union, New Jersey. Das ist so quasi ein unbedeutendes Kaff mit ein paar Einwohnern, einem Drugstore und einem Schnellimbiss, das entscheidende ist die Nähe zu New York. Wenn man sich in sein Auto setzt, dann ist man in einer guten halben Stunde am Broadway oder am Rockefeller Center (so gibt das Google Maps an, wahrscheinlich stimmt das natürlich nicht und man steht ab Grenze Manhattan im Stau…).
Nun, jedenfalls kaufte meine Grosstante in irgendeinem New Yorker Laden ein paar T-Shirts. T-Shirts für einen Jungen, in meiner Erinnerung schwarz und blau mit weissen und gelben Aufdrucken. Und diese Shirts kamen dann im Jahre 1969 in Stuttgart an – ich war damals 4. Ja, und dann entschied meine Mutter, dass man mit «solchen Lappen» unmöglich herumlaufen könne.
Und warf sie weg.
Wahrscheinlich hätte ich das zu dieser Zeit und an ihrer Stelle auch getan. Aber hier wurde meine Chance verspielt, als erstes Kind des Quartiers, der Stadt, vielleicht sogar des Bundeslandes solche T-Shirts zu tragen. Und mich als Trendsetter zu etablieren.
Wenn ich mein Leben so anschaue, dann ist es eine Abfolge von versauten Chancen gewesen.
Ein paar Jahre später vermasselte ich selbst meine spätere Karriere als Profisportler.
Wenn ich meine Bewegungen beim Schwimmen und Volleyballspielen beobachte, wenn ich meinen immer noch jugendlichen, sportlich-gestählten Körper im Spiegel anschaue, wenn ich Fotos von mir bei Badminton oder Ping-Pong betrachte, dann ist mir klar, dass ich ein Spitzensportler geworden wäre.
Dummerweise begann ich meine Laufbahn als Teilnehmer des Kinderturnens der SKG, der Sport- und Kulturgemeinschaft Stuttgart-Gablenberg. Dieses Kinderturnen fand in einer Turnhalle mit 8 Gruppen mit je 10 Kindern statt, was mit Leitern und Co-Leitern fast 100 Personen bedeutete. Heisst auf Deutsch: Unbeschreiblicher Lärm, unbeschreiblicher Gestank, unbeschreibliches Durcheinander. Zudem bekam ich einmal eins auf die Nase, als ich einen Turner darauf hinwies, dass man den Rotz nicht die Nase hochzieht. Blöderweise war er 3 Jahre älter und einen Kopf grösser.
Jedenfalls, ich trat nach einem halben Jahr aus dem Turnen und aus der SKG aus; und ich habe es erst im Erwachsenenalter mich wieder sportlich betätigt.
Ich habe versprochen, Ihnen über das zu schreiben, was ich nicht geworden bin. Und wenn ich dies nun so schreibe, merke ich, dass extrem viel zu holen gewesen wäre.
Die nächste verpatzte Chance hat nun mit Geld zu tun. Im Sommer 1982 wechselte ich die Schule vom Stuttgarter Osten in den Stuttgarter Westen. Man weiss nicht erst seit East End Boys West End Girls von den Tierladenjungs, dass der Osten schlecht und der Westen gut, der Osten asozial und der Westen gehoben und der Osten arm und der Westen reich ist. Das hat sogar wirklich historische Gründe, hat mit Wind und so zu tun, aber das würde zu weit führen.
Jedenfalls verbrachte ich meine letzten beiden Schuljahre in einem guten Gymnasium in einem reichen Quartier.
Das letzte dieser beiden Schuljahre gab ich Nachhilfe, und zwar einer jungen Dame, die so schön und reich wie dumm war. Es war so richtig klischeemässig, wir sassen in ihrem 67 qm grossen Zimmer und blickten auf Garten mit Pool, manchmal kam der Vater (Inhaber einer grossen Firma) herein, um zu sagen, dass er jetzt Golf spielen ginge. Und während ich der guten Mamsell zum 92ten Male den Ablativus Absolutus und die zweite Ableitung (zur zufällig zwei «Abls») erklärte, dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, mit ihr anzubandeln. Sie sah extrem gut aus, und ich wäre finanziell gesattelt gewesen.
Aber ich habe es nicht getan.
Wenn ich mein Leben so anschaue, dann ist es eine Abfolge von vertanen Chancen gewesen.
Die letzte grosse Chance bot sich bei einer Reise in die DDR. Ich überschritt im Sommer 1984 die innerdeutsche Grenze am Bahnhof Friedrichsstrasse. Im Gepäck hatte ich viel Übematerial zu den Themen Musikgeschichte und Musiktheorie, denn meine Aufnahmeprüfungen im Fach Schulmusik standen direkt bevor.
Als der Vopo nun Generalbass-Übungen zu Gesicht bekam, fand er sie extrem suspekt. Man muss hier sagen, dass eine Anhäufung von Dingen wie
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auch verdächtig ist. Er hielt das für Raketen- oder Bombenbaupläne. Und ich erklärte ihm eine halbe Stunde den Basso Continuo. Und er glaubte mir.
Und hier versäumte ich es, dem BND die Umschrift von Geheimnissen in Generalbassnotation vorzuschlagen und mich gleich als Agent anzudienen…
Modepapst.
Olympiasieger.
Firmeninhaber.
Meisterspion.
Mein Leben ist eine Abfolge vertaner Chancen.
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