Dienstag, 18. Juli 2023

Fremdmelken

Manchmal muss ich bei der Lektüre eines Wortes richtig laut lachen.
So passierte es neulich wieder, als ich, im Tram sitzend, die folgende Passage las:

Eine Landwirtin hat zwei junge Wanderer beim Fremdmelken erwischt. Der Vorfall machte in der Alpstein-Region schnell die Runde. Auch in den sozialen Medien wird rege darüber diskutiert. Die Landwirtin erwischte die beiden Männer und wollte sie zur Rede stellen – da waren sie schon über alle Berge.

Es soll nun gar nicht um den Wirbel gehen, den dieses «Fremdmelken» ausgelöst hat – das ist einen eigenen Post wert – sondern um die schrecklichen Kompositionen, die das Wort «fremd» in unserer Sprache schon mitmachen musste.

Lange gab es vor allem ein Verb: «Fremdgehen». Damit war gemeint, dass man neben einer Beziehung eine weitere, andere, intime Beziehung pflegte. Das war in meiner Jugend nicht nur Thema von Klatsch und Tratsch und von vielen Filmen und Fernsehspielen, es war vor allem in Scheidungsfragen ein sehr, sehr, sehr, sehr, sehr spannendes Moment: Die Ehefrau, wurde sie beim «Fremdgehen» erwischt, wurde schuldig geschieden und stand dann quasi mittellos da. Kein Wunder, dass gefühlte 3000000000 Millionen Privatdetekteien nichts anderes taten, als Ehefrauen nachzuspüren. Und natürlich auch den Ehemännern, die gingen ja auch fremd, und dann hatte man eine Patt-Situation.

Kleine Randbemerkung: Dass der Handelsreisende R. aus S., der extrem viel unterwegs gewesen war (und damit seine Ehefrau vernachlässigt hatte), auf einer Scheidung OHNE Schuldfrage bestand, obwohl seine Gattin mit dem Arbeitskollegen H. aus S. spazieren und im Kino und im Café gewesen war, muss man ihm hoch anrechnen – im Jahre 1963!

Nach dem «Fremdgehen» kam dann das «Fremdschämen». Auch ein herrlich blödsinniger Begriff.
Denn Scham, Reue, Ergriffenheit und Betroffenheit sind Dinge, die ich ja eigentlich nicht für eine andere Person übernehmen kann. Aber es ist klar, was damit gemeint ist. Und durch die ständige Präsentation von eigenen Peinlichkeiten in den Sozialen Medien kommt man ja aus dem Fremdschämen nicht heraus. Auch früher kaufte die Tante zum Beispiel einen scheusslichvioletten Schal bei T&F, aber sie zeigte ihn nur im familiären Kreis und präsentierte ihn nicht auf Facebook. Auch früher fuhren Menschen nach Mallorca und legten sich an den Strand (die unglaublichen landschaftlichen und architektonischen Schönheiten ignorierend), aber sie liessen uns nicht via Instagramm an ihren Bäuchen-in-der-Sonne teilhaben…

Eine der schönsten Kompositionen ist auch die «Fremdwanne»; wir kennen sie aus dem unvergessenen Dialog der beiden Herren in der Badewanne:

«Wer sind Sie denn überhaupt?»
«Mein Name ist Müller-Lüdenscheidt.»
«Klöbner, Doktor Klöbner.”
«Angenehm.»
«Angenehm.»
«Können Sie mir sagen, warum Sie in meiner Badewanne sitzen?»
«Ich kam vom Pingpong-Keller und habe mich in der Zimmernummer geirrt. Das Hotel ist etwas unübersichtlich.»
«Aber jetzt wissen Sie, dass Sie in einer Fremdwanne sitzen und baden trotzdem weiter.»
«Von Baden kann nicht die Rede sein, es ist ja kein Wasser in der Wanne.»

Fremdmelken, Fremdgehen, Fremdgehen, Fremdwanne also.

Es ist aber umgekehrt spannend, dass in den Zusammenhängen, in denen der Wortteil «fremd» angebracht wäre, eben diese fünf Buchstaben immer mehr verschwinden. War es früher der «Fremdling», so ist es heute der «Mensch mit Migrationshintergrund», war es früher die «Fremdenpolizei», ist es heute das «Amt für Bevölkerungsdienste und Migration». Ändert das etwas? Nein. Warum vermeiden wir dann das Wort «fremd» genau in den Zusammenhängen?

«Fremd» ist ja per se nicht schlecht.
Die Sprache, das Essen, die Lieder und auch die traditionelle Kleidung meines Kollegen aus Sambia ist mir fremd – alles andere wäre eine grobe Lüge.
Japan ist für mich ein fremdes Land, seine Bilder, seine Musik und seine Gedichte sind mir fremd. Wir müssten aber gar nicht so weit gehen: Bei meiner ersten Party in der Schweiz stand ich wie ein Ochs vorm Berg auf der Tanzfläche, weil ich alle die Lieder nicht kannte, die die anderen von A-Z mitgrölten; da sie auf Mundart waren, hatte das deutsche Radio nicht gespielt.
«Ewigi Liebi» und «Ä Schwan so wiss wie Schnee» waren mir fremd.

So viel für heute.
Ach… Sie lesen jetzt nicht auch noch den «Postillon», gell?
Das wäre Fremdlesen.

P.S.:
Die Frau des Handelsreisenden war übrigens meine Mutter (ja, und Herr H. mein Vater). Meine Mutter, die am 15. Juli 100 geworden wäre.











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