Bisher dachte ich, Spiritualität habe etwas mit Ruhe und Abgeschiedenheit zu tun.
Im Alten und Neuen Testament gehen die Protagonisten immer auf einen Berg – oder in die Wüste. Dort meditieren sie. Dort fasten sie. Dort empfangen sie Gesetzestafeln oder diskutieren mit dem Teufel. Dort erleben sie Spiritualität.
Aber auch in anderen Zusammenhängen und in anderen Religionen kennt man die Einsamkeit, die Eremitage, das Abgeschiedensein. Das Rauschen des Windes, das Murmeln eines Baches, der Gesang der Vögel dient doch dem spirituellen Erleben mehr als das Getöse der Stadt? Das Blätterdach und der weite Horizont mehr als Beton? Der Duft des Mooses und der Salzgeruch des Strandes fördert doch das Geistige und Geistliche mehr als Benzingeschmack?
Bisher dachte ich, Spiritualität habe etwas mit Ruhe und Abgeschiedenheit zu tun.
Weit gefehlt.
Ganz weit gefehlt.
Bisher dachte ich, Spirituelles Lernen habe etwas mit einzelnen Persönlichkeiten zu tun.
Im Glasperlenspiel wird das unglaublich schön geschildert, wie die Hauptfigur sich der Technik des I-Ging nähert: Josef Knecht reist zur Hütte des «Älteren Bruders», eines Meisters jener Kunst. Dort wird er zunächst gar nicht willkommen geheissen, aber er wird geduldet, und es braucht eine lange Zeit der Annäherung, bis der «Ältere Bruder» ihm Einblicke in die I-Ging-Technik gibt.
Dieses Schüler-Meister-Verhältnis ist typisch für die asiatische Philosophie und Spiritualität, trifft aber auch auf das normale «westliche» Lernen zu. So dachte ich immer, Spirituelles Lernen ginge nur in einer intensiven Beziehung.
Weit gefehlt.
Ganz weit gefehlt.
Äusserst weit gefehlt.
Bisher dachte ich, Spiritualität sei auch etwas für kleine Geldbeutel.
Was sind die Grundlagen? Der eigene Körper, gut, den haben wir umsonst, wir können ihn rund um die Uhr spüren – ohne Aufpreis. Atmen. Auch die Luft gibt es für null Geld (noch, muss man vielleicht sagen…) Natur. Die Vögel fliegen umsonst und der Bach rauscht umsonst und die Wolken ziehen auch durch den Himmel ohne Money dafür zu verlangen. Jesus bekommt keine Tantiemen mehr für seine Worte und die Mystiker auch nicht. Beten ist gratis und eine Yoga-Matte kriegt man bei der MANOR® für 19,99 – wenn man einfach eine normale Isomatte nimmt.
Bisher dachte, Spiritualität sei etwas für kleine Portemonnaies.
Gefehlt.
Stärkstens gefehlt.
Gefehlt bis zum Horizont.
Ein Basler Festival lehrt mich das Gegenteil:
Es ist das GRÖSSTE in Europa, von Ruhe und Abgeschiedenheit keine Spur, man hat die St. Jakobs-Halle gemietet, also einen Ort, an dem sonst zum Beispiel die Swiss-Indoors stattfinden, also Menge und Hektik pur.
Hier wird es auch nicht um die Begegnung von EINEM Schüler, EINER Schülerin mit EINEM Meister, EINER Meisterin gehen, Vierzig, nein ÜBER vierzig Nasen werden ihre spirituelle Kunde vor einer Riesenmenge anbieten.
Und die Kosten? Gut, die gehen bei der Katzentisch-Kategorie im Frühbuchermodus los, steigern sich aber zu dem Betrag, den man hinlegt, wenn man die VIP-Card will und erst im Herbst zahlt:
1999 Franken.
Dafür können Sie übrigens nach Indien fliegen und im Ganges baden.
Was sagen aber nun die Macher von FINDYOURFLOW? Rechtfertigt das geplante Programm den dreifachen Tausch? Das Eintauschen von spiritueller Ruhe gegen Grösse und Masse? Das Eintauschen von Schüler-Lehrer-Verhältnis gegen die Auswahl von über 40 Workshops? Das Eintauschen von Gratisluft und Gratiswasser gegen eine VIP-Karte von 2000 Franken?
Was sagen Sie nun?
Dieser Flow wird dich verändern. Er wird dir zeigen, dass das Leben ein fliessender Strom ist und dass jede Biegung aus einem bestimmten Grund geschieht. Dieser Flow hilft dir, dein Leben zu verstehen. Herausforderungen werden immer noch Herausforderungen sein. Aber dein neuer Flow wird dir zeigen, wie du ihnen begegnen kannst & wie du sie meistern & an ihnen wachsen kannst.
Ach so. Das ist natürlich etwas anderes. Es geht um den Flow, das Gefühl des Fliessens, des Strömens. Und ich werde lernen, dass das Leben ein solcher Strom ist. Gut, denn bisher habe ich immer gedacht, das Leben sei ein tiefer, ruhiger See, nein, das ist natürlich falsch, ich bin ja Schwimmer, für mich war das Leben eine 50 Meter-Bahn, auf der man hin und her schwamm. Aber nun werde ich begreifen, dass das Leben ein Flow ist.
Und die Hindernisse werden nicht verschwinden – das wäre doch eigentlich mal ein schönes Ziel von so einer Veranstaltung – nein, ich werde sie meistern. Meistern. Habe ich aber jetzt auch schon gemacht, auch ohne Flow. Ich wäre sonst gar nicht mehr da. Fragen Sie meine Leber.
Aber ich werde «an ihnen wachsen» – das ist auch so ein Schwachsinn. Ich weiss nicht, wer das aufgebracht hat, dass man an Krisen und Hindernissen wächst und reift, dass man «gestärkt aus den Schwierigkeiten» hervorkommt. Meistens muss man froh sein, wenn alles so ist, wie es vorher war.
Bisher habe ich gedacht, Spiritualität habe etwas mit Ruhe und mit einem Schüler-Meister-Verhältnis zu tun. Aber nun werde ich mich eines Besseren belehren lassen.
Denn ich werde natürlich hingehen.
So einen Unsinn muss man live sehen.
Natürlich mit der VIP-Karte für 1999,--
Drunter mache ich es nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen