Ich sitze an meinem Schreibtisch und entklebere meine neuesten Bücher.
Es ist spannend, dass ich hier eine rote Linie bekomme (die Sie natürlich nicht sehen, logisch). Es ist aber auch spannend, dass das Wort «entklebern» dem WORD®-Fundus und dem Netz unbekannt ist, das Wort «entkleben» dem WORD®-Fundus zwar auch, dem Internet aber nicht. Laut dem World Wide Web ist das letztere ein Wort, das die Verleimung von Bauteilen und Materialien löst, das erstere aber ein (von mir erfundenes) Wort meint, das das Entfernen von Klebern aller Art meint.
Der Stapel beinhaltet übrigens:
Ferdinand von Schirach: Nachmittage
Anna Kim: Geschichte eines Kindes
Kübra Gümüşay: Sprache und Sein
Joseph Haslinger: Opernball
Robert Seethaler: Das Café ohne Namen
Ich habe diesen Stapel (zusammen mit einem Vogelstimmenberuhiger und einem Kohledünger) von meinem wunderbaren Treffen mit meinen Freiburger Freunden mitgebracht – die meisten haben mir Bücher geschenkt, was bei einer Leseratte wie mir auch ein sinnvolles Präsent ist.
Nun bin ich also dran, die Kleber von den Büchern zu pulen.
Die Kleber sind vor allem an zwei Stellen: Der eine Kleber verdeckt den Preis, meist ist er auch noch mit einer Werbung verbunden, also einer Angabe der Buchhandlung, der Buchhandlung, in der der Roman oder das Sachbuch erworben wurde, der andere Kleber preist den Artikel mit Worten wie «Spiegel Bestenliste Nr. 1» oder «Deutscher Buchpreis» oder «Meistgekauftes Buch 2022».
Warum überkleben wir den Preis eines Buches? Warum überkleben wir überhaupt den Preis einer Sache? Klar, damit der Beschenkte nicht sieht, wie wenig wir ausgegeben haben. Das ist aus zwei Gründen völlig idiotisch:
Wenn ich wirklich wissen will, was Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte für ein Präsent ausgegeben haben, dann kann ich es googeln. Früher – und die Sitte kommt ja von früher – konnte man in ein Geschäft gehen oder in ein Schaufenster schauen. Man bekam es heraus.
Aber ich will es ja gar nicht herausbekommen. Wenn Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte ein Buch sehen, das wie für mich gemacht ist, und das Buch kostet aus irgendeinem unerfindlichen Grund nur 11.--, à la Bonheur! Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte sollen das kaufen, auch wenn es in ihren Augen zu günstig ist.
Ach, Sie meinen, das ist umgekehrt? Das Geschenk ist zu teuer? Gut, wenn Heinz oder Klaus oder Monika oder Brigitte mir etwas für 100 Stutz schenken wollen, sollen sie auch das tun, ich denke, es muss dann gerade sein – und sie haben auch gerade das Geld.
Was mit Menschen ist, die aus taktischen Gründen schenken?
Mit solchen muss ich nicht verkehren. Ich muss keine Partys oder Einladungen machen, weil mein Arbeitgeber das will, ich muss keine Leute treffen, die zwar Riesenarschlöcher (s.v.v.), aber doch potentielle Kunden sind – das ist eines der Privilegien meines Jobs.
Die andere Sorte Kleber ist heikler, und man muss sie auch – so glaube ich – ein wenig differenzieren. Der Hinweis auf einen Buchpreis, auf den Deutschen Buchpreis, auf den Schweizer Buchpreis, auf den Preis der Leipziger Buchmesse, aber auch auf eine Auszeichnung, die der Autor bekommen hat, Büchner, Nobel, Paulskirche usw. kann ja ganz hilfreich sein. Man geht ja irgendwie davon aus, dass hier Menschen entschieden haben, die etwas von der Sache verstehen, also dass der Deutsche Buchpreis, der Schweizer Buchpreis, aber auch der Prix Goncourt, der Pulitzer Prize von Leuten vergeben wird, die Literaturfachleut*innen sind. Vielleicht ist das naiv gedacht, aber in dubio pro reo.
Anders ist das mit den «Meistgekauft»-Klebern, mit den «Bestseller»-Bebbern, mit den «Spiegel Bestenliste»-Sticks. Denn diese «Meistgekauft»-Klebern, mit den «Bestseller»-Bebbern, mit den «Spiegel Bestenliste»-Sticks besagen ja eines: Andere Menschen haben diese Bücher gekauft, also müssen sie gut sein. Dann hätten viele Autoren, die wir heute zur Weltliteratur zählen, einen solchen Kleber nie bekommen, andere hätten es, werden aber heute eher belächelt.
In der Sponti-Szene der 80er gab es dazu einen Klospruch:
ESST SCHEISSE, LEUTE! – MILLIONEN FLIEGEN KÖNNEN SICH NICHT IRREN.
Treffender kann man es nicht ausdrücken.
Ich habe nun meine Bücher entklebert:
Den Schirach, das Buch von Frau Kim, «Sprache und Sein», den «Opernball» und den Seethaler.
Wenn ich über die Oberfläche streiche, dann fühlt es sich wunderbar glatt und sauber an.
Nun muss (darf!) ich die Bücher nur noch lesen. Und dann wird es mir egal sein, ob sie 20 oder 30 Franken gekostet haben, ob sie den Österreichischen Buchpreis (den gibt es nämlich auch!) bekommen oder verfehlt haben und ob andere Menschen das Werk toll fanden.
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