Freitag, 9. Oktober 2020

Was ist "zu viel"? Was ist "genug"?

Liebe Leserin, lieber Leser
Haben Sie gewusst, dass wir uns in fast allen Punkten einig sind? Glauben Sie nicht? Ich habe hier ein paar Beispiele:
Thema Essen:
Es ist nicht gut, Speisen zu sehr zu salzen.
Zu süsse Desserts schmecken nicht gut.
Thema Gesundheit:
Man soll nicht zu viel Alkohol trinken.
Man soll genug Sport treiben um den Körper fit zu halten.
Thema Kultur:
Man soll sicher nicht Mozart zu langsam spielen.
Ein zu langes Buch langweilt den Leser.

Sehen Sie?
Nun werden Sie sicher zu Recht einwenden, dass das alles Quatsch ist. Quatsch, weil ja diese Wörtchen «zu» und «zu viel» und «genug» das Streitthema sind, und nicht die Sache an sich. Was bedeutet denn «zu» und «zu viel» und «genug»?

Keiner will zu salzige Speisen, aber was für den einen völlig, aber total und wahnsinnig versalzen ist, so versalzen, dass er fast erbricht, ist für den anderen fade, entsetzlich fade. Die eine isst schon keine Erdbeeren, weil sie ihr zu süss sind, die andere kippt auf die Erdbeeren noch ein Kilogramm Raffinade.

Der eine hält zwei Gläschen Weisswein zum Apéro, 6 dl Rotwein zum Essen und drei Whiskey als Absacker für völlig normal, für einen anderen ist ein Glas Bier die Woche schon der Beginn des Alkoholismus (man erinnere sich nur an den wunderbaren Satz von John Malkovich aus Burn after Reading: «I have a drinking problem? Oh, fuck you, Percy, you are a Mormon, for you everybody has a drinking problem.») Die eine findet, zweimal die Woche laufen sei schon genug Sport, und auch zu diesen zwei Mal muss sie sich zwingen, die andere verbringt jeden Tag drei Stunden im Fitnessstudio und findet das das absolut minimale Quantum.

Und wann ist Mozart zu langsam gespielt? Man höre sich da mal nur durch die Aufnahmen bei You Tube, da können zwischen Celibidache und einem Vertreter der historischen Aufführungspraxis locker, aber wirklich locker 40 Metronomstriche liegen. Und ein zu langes Buch? Für den einen ist ein Buch mit 10 Seiten zu lang, eigentlich schon ein Buch mit einer Seite, denn er ist ein Nichtleser, der andere hätte auch im Zauberberg gerne noch 400 Seiten mehr und grämt sich, weil der Mann ohne Eigenschaften nicht noch einen weiteren Teil hat.

Und genau diesen Punkt macht sich die Politik in den Wahlkämpfen zu Nutzen.

KEINE ÜBERREGULIERUNG FÜR DIE WIRTSCHAFT
So wirbt ein Basler FDP-Politiker von Plakaten. Und alle sind einverstanden, denn eines ist klar: Überregulierung will ja niemand. Aber was ist Über-Regulierung?
Für einen Bonzen von 1880 wären sicher schon eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit, Lohnfortzahlung, Ferienanspruch, etc., etc. ein Mass von Überregulierung, das ihn wütend machen würde. Der Staat will mir vorschreiben, wie viele Stunden der Arbeiter am Band verbringt? Vorschreiben, dass ich ihm weiter Lohn zahle, wenn er krankfeiert? Vorschreiben, dass ich ihm Urlaub gewähre? Das ist ja völlig undenkbar, völlig abstrus, völlig daneben, das ist ja hoffentlich ein Aprilscherz…
Für manche Arbeitsrechtler sollte alles am Arbeitsplatz geregelt werden, das Recht auf ausgiebigen Klogang, auf eine Raumtemperatur, die den medizinischen Kriterien entspricht, Recht auf 3 Tage frei bei der Hochzeit der Kusine (wenn ein enges Freundschaftsverhältnis besteht)…
Was ist nun Über- und was Unterregulierung?

Und so könnte man jeden Slogan auseinandernehmen:

NICHT ZU VIELE AUSLÄNDER
Gut, aber was ist «zu viel»? Für einen linken Sponti kann es nicht multi-kulti genug sein, da freut man sich über jede Nation im Quartier, die neu auftaucht, für einen AfD-Menschen bringt schon der eine Marokkaner im Dorf ein Ausmass der Überfremdung, das die Dorfgemeinschaft völlig durcheinanderbringen wird.

NICHT ZU HOHE STEUERN
Genau das Gleiche. Der eine zahlt bei minimalem Jahreseinkommen nur 450.—und findet das zu hoch. Der Superverdiener mit Millioneneinkommen zahlt 100 000.—und findet das auch zu hoch. Schliesslich muss er seine Putzfrau, seinen Gärtner, seinen Chauffeur und seinen Butler auch bezahlen, ihm wird ja auch nichts geschenkt, und die Häuser in St. Moritz und St. Tropez müssen nun ja auch unterhalten werden…

Wie lange soll ein Post sein? Nicht zu lange.
Sehen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch hier sind wir uns schon wieder einig.
Aber…
Aber…
Der oder dem einen ist jetzt schon langweilig, aber die oder der andere würden gerne noch weiterlesen.

Daher jetzt ganz autoritär:
Auf Wiedersehen.



 

 

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