Dienstag, 7. Mai 2024

Südamerika (5): Die Welt eines fiktiven Tirols

Stellen Sie sich vor, Sie kämen nach vielen, vielen Jahren Ihre alte Tante besuchen. Ihre Tante, bei der Sie oft die Ferien verbrachten und die in ihrem grossen Haus mit dem grossen Garten alleine lebt. In diesem grossen Haus hatten Sie stets das gleiche Zimmer, und die Tante hatte in diesem Zimmer alles immer so parat gemacht, dass Sie sich wohlfühlen sollten: Das Bett mit Bayern München-Biber-Bettwäsche bezogen, ein unglaublich süsser Plüschkermit mit einer unglaublich süssen Plüschpiggy darauf, auf dem Bord viele, viele, viele Playmobilfiguren, die Karl-May-Bände griffbereit zum Lesen und auf dem Tisch Ihr Lieblingsdessert (Erdbeerpudding) und Ihr Lieblingsgetränk (Afri Cola).

Nun kommen Sie nach Jahren zurück und alles, alles ist wie ehedem: Das Bett mit Bayern München-Bettwäsche, der unglaublich goldige Plüschkermit und die unglaublich goldige Plüschpiggy, auf dem Bord die 100 Playmobilfiguren, «Winnetou» und «Schatz im Silbersee» und «Durchs wilde Kurdistan» griffbereit zum Lesen und auf dem Tisch Erdbeerpudding (Ihr Lieblingsdessert?) und Afri Cola (Ihr Lieblingsgetränk?).

Brächten Sie es übers Herz, der alten Tante zu sagen, dass nun alles anders ist? Dass Sie in weissem Damast der Marke Schlossberg® schlafen? Dass Sie keine Kuscheltiere mehr haben und skulptural eher bei abstrakter Kunst angekommen sind? Dass Gleiches auch für die Playmobil-Figuren gilt? Dass Sie sich von May inzwischen zu Houellebecq und Schirach weiterentwickelt haben? Und dass Sie als «Gute-Nacht-Snack» lieber einen guten Merlot und ein paar Scheiben Salami wünschen?

Oder bleibt alles beim Alten, Sie legen sich in die blau-rote Wäsche, streicheln den Frosch und werfen einen liebevollen Blick auf den Playmobil-Cowboy, die Playmobil-Fee und den Playmobil-Superman, fangen an wieder von Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi zu schmökern und verzehren Doktor Oetker und Afri?

Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht baut oder baute sich die Tante eine Welt, die so nie gestimmt hat, vielleicht haben Sie die Bettwäsche NIE gemocht und NIE einen Plüschkermit gerngehabt, vielleicht haben Sie NIE Erdbeerpudding gegessen und alles war Tante-Wunschdenken.
Vielleicht aber ist es auch umgekehrt, und Sie sind IMMER NOCH so, wie die Tante es sich vorstellt. Vielleicht lesen Sie IMMER NOCH Karl May und trinken IMMER NOCH Afri Cola und spielen IMMER NOCH mit Playmobil.

Der entscheidende Punkt ist:
Es ist für das Gästezimmer bei der Tante, es ist vor allem für die Tante völlig, völlig, völlig, völlig egal, ob Sie damals den Jugend-Stil (der Bindestrich ist hier unbedingt notwendig, um Missverständnisse zu vermeiden!) mochten und jetzt nicht mehr, oder ob hier etwas hochgehalten wird, was immer noch so existiert oder ob hier eine Welt gestaltet wird, die eigentlich so nie da war…

Wofür jetzt die lange Vorrede?
Weil mich zwei Orte in der Provinz Santa Catarina sehr an ein solches Tanten-Jugend-Zimmer erinnerten. Aber nicht, weil dort Playmobil stand, nein, die Gleichungen heissen Zimmer = Städte und Jugendwelt = Deutschland, Österreich oder Schweiz. Denn in einigen Gemeinden im Süden Brasiliens wird eine Welt hochgehalten, die in der «Heimat» so existierte und existiert, oder die in Deutschland, Österreich oder der Schweiz so NIE existierte oder die einst existierte und in der «Heimat» als sehr, sehr veraltet gilt.

In Treze Tílias (Dreizehnlinden) fiel uns als erstes eine Sitzbank ins Auge, die von zwei Figuren in Sepplhosen und Tirolerhüten getragen wurde. Später, beim Hotel «Dreizehnlinden» ging der Spass weiter: Die Front des Gebäudes könnte 1 zu 1 in Kufstein stehen, viel dunkles Holz, Balkone mit Geranien und Heiligenbilder als Wandgemälde, innen geht es gerade so weiter, an der Rezeption mit Eiche und Nussbaum begrüsst einen eine Dame, die perfektes Deutsch mit ultrastarkem österreichischen Akzent spricht.
Treze Tílias wurde Mitte des 20. Jahrhunderts vom Tiroler Kaufmann Andreas Thaler gegründet und ist so tirolerisch, wie Tirol einmal war (oder noch ist, oder nie war, siehe oben).
Abends, in der Bierkneipe, spielen dann Vater und Sohn Volksmusik, beide (natürlich) auch in Krachleder und Tirolerhut – den man sich ja lieber kauft und der einem so gut steht – der Vater spielt Akkordeon und der Sohn ein akkordeonähnliches Schlagdings, klappernd und klippernd, wirkt zunächst auch sehr tirol-volkstümlich, entpuppt sich beim Nachschlagen im Netz dann aber als Kokiriko, ein Schlagwerk ursprünglich japanischen Ursprungs, aber da alles Fake ist, macht das gar nichts, hier wird also in Brasilien Tiroler Brauchtum mit japanischen Idiophonen gemacht, wenn schon.

Treze Tílias wird dann von der «Villa Germanica» in Blumenau noch übertroffen. Dieser Freizeitpark in der von Deutschen gegründeten Stadt ist reines Disneyland. Ein Fachwerk-Nachbau reiht sich an den anderen, wenn nicht ein Holz-Nachbau danebensteht, in der Mitte ein Baum mit gefühlt 6000 Ostereiern und zum (deutschen) Mittagsessen mit Knödeln und Haxe gibt es deutschen Schlager. Das Tolle ist, dass der Alleinunterhalter zwar perfekt ausspricht, aber – so sagt mir mein Reisebegleiter – keine Ahnung hat, was er da eigentlich singt:
Weine nicht, wenn der Regen fällt
Dam dam, dam dam
Hier ist einer, der zu dir hält
Dam dam, dam dam

Immerhin bekam ich in diesem Europa-Park zwar nichts aus Marmor, Stein und Eisen, aber etwas aus Papier, das ich sehr gesucht hatte:
Postkarten, schön kitschige, alte, aber Postkarten!

Von denen noch die Rede sein wird.



        

 

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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