Dienstag, 22. November 2022

Mein WM-Boykott-Dilemma

Liebe unverdrossene Fussballfans, liebe verdrossene Fussballfans, liebe Aufruferinnen und Aufrufer von #boycottkatar, liebe Nicht-Aufruferinnen und Nichtaufrufer von #boycottcatar

Ich bin in einem Dilemma.
Ich bin mehrfach aufgefordert worden, die WM in Qatar zu boykottieren, ich bin mehrfach aufgefordert worden, die WM in Qatar NICHT zu boykottieren.
Und nun bin ich in einem Dilemma.

Ich bin im gleichen Dilemma wie meine Freundin Susi aus NRW, die von mehreren Seiten aufgefordert wurde, die Firma Tönnies zu boykottieren.
Nun ist Susi aber Veganerin und hat seit 15 Jahren kein Fleisch gegessen. Natürlich isst sie kein durch Wanderarbeiter gefertigtes Billigfleisch, aber was zählt das, wenn sie auch kein Bio-Fleisch vom benachbarten Bauernhof nimmt?

Ich bin im gleichen Dilemma wie Detlef aus Müllheim, den man aufgefordert hat, Gergiev zu boykottieren.
Nun endet Detlefs Musikgeschmack, der eigentlich aus ABBA und den Kastelruther Spatzen besteht, im klassischen Sektor bei der Serenade Nummer 13 für Streicher G-Dur KV 525 (besser bekannt als «Kleine Nachtmusik»). Wie soll er Gergiev boykottieren? Er würde weder eine Tschaikowski-Sinfonie noch eine Wagner-Oper aushalten.

Ich bin im gleichen Dilemma wie Jürgen aus Hamburg, der gedrängt wird, nicht mehr zu fliegen, und zwar nicht aus der Kneipe, sondern mit dem Flugzeug.
Jürgen hat nun, seit er denken kann, Flugangst (und zwar richtig schlimme, mit Panik und Erbrechen und Schwitzen und Fieber 10 Tage VOR dem Flug). Und wegen Panik und Erbrechen und Schwitzen und Fieber fährt Jürgen zweimal im Jahr nach Süditalien – mit dem Zug. 50 Stunden mit zwei Übernachtungen. Und er könnte sich den Orden «Umweltheld 1. Klasse» umhängen, wenn nicht diese Flugangst mit Panik und Erbrechen und Schwitzen und Fieber wäre…

Ich bin im gleichen Dilemma wie…
Ich denke, Sie haben verstanden.

Liebe unverdrossene Fussballfans, liebe verdrossene Fussballfans, liebe Aufruferinnen und Aufrufer von #boycottkatar, liebe Nicht-Aufruferinnen und Nichtaufrufer von #boycottcatar

Ich kann Ihnen die folgenden Dinge versprechen:
Ich bin nicht nach Qatar gefahren und ich werde nicht mehr nach Qatar fahren.
Ich werde zu keinem Public Viewing gehen.
Ich werde mir kein Spiel im Fernsehen anschauen.
Ich werde die WM ignorieren.

Aber – wie oben gezeigt – dieser Boykott meinerseits bringt Ihnen gar nix.

Denn ich wäre auch so nicht Qatar gefahren.
Ich wäre auch so zu keinem Public Viewing gegangen.
Ich hätte mir auch so kein Spiel im Fernsehen angeschaut.
Ich hätte die WM auch so ignoriert.

Wie kommt man aus dem Dilemma heraus?
Für die aktuelle WM natürlich gar nicht.
Ich könnte mich natürlich mit den anderen, oben genannten Dingen beschäftigten, aber das ist auch schon fast erledigt:
Ich esse sehr wenig Fleisch, vielleicht einmal, zweimal die Woche, und wenn wir Fleisch kaufen, dann ist es Bio und sicher nicht aus Westfalen.
Ich boykottiere den Putinfreund und Schwulenhasser schon seit 15 Jahren.
Ich fliege nicht in den Urlaub, was bei meinen Lieblingsreisezielen Berlin und Scheveningen ob super Zugverbindungen auch totaler Quatsch wäre.

Liebe unverdrossene Fussballfans, liebe verdrossene Fussballfans, liebe Aufruferinnen und Aufrufer von #boycottkatar, liebe Nicht-Aufruferinnen und Nichtaufrufer von #boycottcatar,

Jetzt habe ich aber eine Idee:
2030 findet die Yoga-WM in Teheran und Isfahan statt. Ich werde mich ab nun für Yoga interessieren. Ich werde selber ins Yoga gehen, alle Wettkämpfe verfolgen, mich informieren und mich begeistern, ich werde an die WMs und Ems gehen, ich werde der totale Sportyoga-Fan werden.
Und dann…
Und dann…
Dann werde ich die WM im Iran 2030 boykottieren.

Liebe unverdrossene Fussballfans, liebe verdrossene Fussballfans, liebe Aufruferinnen und Aufrufer von #boycottkatar, liebe Nicht-Aufruferinnen und Nichtaufrufer von #boycottcatar,
Mehr kann ich Ihnen heute nicht bieten.



 

 

 

 

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