Dienstag, 23. Februar 2021

Der R-Wert und die 7-Tage-Inzidenz

 «Ein Durchschnitt von 4,5 ist absolut OK.» So sagt mein Neffe zu mir, als er mir das Zeugnis zeigt. Ich betrachte kurz die Noten, stosse auf eine höchst erfreuliche 6 in Deutsch und eine sehr erfreuliche 5,5 in Englisch (für die Nichtschweizer: Notenskala von 1 bis 6 in Halbschritten), aber auch auf zwei weniger erfreuliche 3 in Biologie und Chemie (für die Nichtschweizer: Unter 4 ist nicht genügend). «Nun», sage ich, «vollkommen einverstanden. Vollkommen einverstanden, aber ich möchte dich doch daran erinnern, dass du zunächst, und zwar im August, die Parole KEINE NOTE UNTER 5 ausgegeben hattest, ein durchaus ambitionierter Plan, aber so hattest du gesagt, schon im Oktober war allerdings schon KEINE NOTE UNTER 4 daraus geworden. Dann, ich glaube im Dezember, ändertest du den Plan und sprachst auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung vom DURCHSCHNITT, und jener Schnitt, von dem du nun auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung sprachst, sollte bei 5 liegen. Du hast also nicht nur den Wert, sondern auch die Zählweise geändert, und das ist sehr irritierend.» Mein Neffe schaut mich kurz an, knurrt dann so etwas wie fckdchinskn und verzieht sich aufs Sofa zu seinem Game.

«Ein BMI von 27,8 ist völlig OK, das ist Normalgewicht.» So sagt mein Kollege, als wir im Schwimmbad nebeneinander sitzen und ich ein bisschen erstaunt auf seine (Corona?-)Wampe starre. «Nun», sage ich, «vollkommen einverstanden. Vollkommen einverstanden, aber ich möchte dich doch daran erinnern, dass du zunächst, und zwar noch vor fünf Jahren, die Parole STOLZ DARAUF SO DÜNN ZU SEIN ausgegeben hattest, eine durchaus diskussionswerte Sache, aber so hattest du gesagt, schon 2017 war allerdings schon ICH HABE IDEALGEWICHT daraus geworden und im Jahre 2018 schliesslich ICH HABE NORMALGEWICHT. Dann, ich glaube 2019 ändertest du den Plan und sprachst auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung vom BMI, und jener BMI, von dem du nun auf einem Mal, Knall auf Fall und ohne Vorwarnung sprachst, lässt bei einen 60 Jahren 90 Kilo, also 10 über NORMAL noch knapp als Normalgewicht zu. Du hast also nicht nur den Wert, sondern auch die Zählweise geändert, und das ist sehr irritierend.» Mein Kollege schaut mich kurz an, knurrt dann so etwas wie fckdchinskn und verzieht sich in die Dusche.

Sorry.
Aber man darf doch irritiert sein.
Aber…
Kennen wir das nicht auch, liebe Leserin und lieber Leser?

Da hat man eine weisse Lederhose gefunden, ohne die man die Boutique auf keinen Fall verlassen kann. Allerdings liegt sie mit 3895.—schon in einem Bereich, der nicht nur das Monats-, sondern auch das Jahresbudget für Kleidung sprengt. Und dann rechnen wir herum und gehen von Mittelwerten im Monat, Jahr und Jahrzehnt aus, und rechnen noch einmal weiter und drehen und wenden und kommen dann zum Schluss: Wenn wir die nächsten 8 Jahre keine Kleidung kaufen, dann liegt die Hose drin.
Und wir kaufen sie.

Da hat man sich vorgenommen, wieder mehr Sport zu machen. 30 MINUTEN PRO WOCHE, so lautet die Parole. Allerdings erfordert es eine ungeheure Disziplin, wirklich jeden Tag eine halbe Stunde zu joggen, zu schwimmen, zu skaten oder zu biken. Also ändern man die Parole in 3 ½ STUNDEN IN DER WOCHE, man wird nun zweimal 1 ¾ Stunden joggen oder schwimmen, skaten oder biken – also eher zweimal eine Stunde, darauf läuft es dann hinaus. Aber auch zweimal wirklich in Echtzeit zu joggen oder zu schwimmen, zu skaten oder zu biken ist disziplinös, und so kommt bald der Spruch 8 STUNDEN IM MONAT, einmal im Monat wird man einen Tag joggen, schwimmen, skaten oder biken. Und daraus wird dann ein Vormittag. Und wenn man ganz ehrlich ist, muss man zugeben, dass ein Vormittag im Monat nicht wirklich «mehr Sport» ist…

Und mit der gleichen Methode, also mit dem Verfahren «Wir ändern ständig die Art des Wertes und auch den Grenzwert selbst» fährt die Politik ja auch durch die Corona-Zeit. Erinnern Sie sich? R-Wert? Ja, den hat man inzwischen ganz vergessen, dabei war er im ersten Lockdown die entscheidende Grösse. R-Wert = 1 ist gut, das war die Parole, später dann mal 0,8 oder 0,6 oder 0,7, je nachdem ob man Herrn Lauterbach oder Herrn Drosten zuhörte. Dann kam irgendwann – wann, ja wann, ja wann? – die sogenannte 7-Tage-Inzidenz. (Die 7-Tage-Inzidenz ist die Anzahl der an sieben aufeinanderfolgenden Tagen in einer Region gemeldeten positiven PCR-Tests pro 100.000 Einwohner, so Wikipedia.) Ja, und nachdem diese ominöse Zahl da war, legte man sie auf 50 fest. 50 war also der Wert, der nicht überschritten werden durfte.
Und jetzt?
Jetzt sind es in Deutschland auf einmal 35.
Versteht kein Mensch, böse Leute würden fast behaupten, da will jemand um keinen Preis eine Besserung, denn: Was kommt, wenn wir 7-Tage-Inzidenz 35 haben, kommt dann nochmal eine Zahl?

Ich habe nichts gegen Messungen. Und ich habe auch nichts gegen Grenzwerte. Nur bitte: Bleibt bei einer Methode und einer Zählart und dann auch bei einem Wert.
Die Menschheit wird euch danken.

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