Montag, 1. Juli 2013

Im Elfenbeinturm

Oben im Elfenbeinturm sitzt der Alte Prof.
Der Alte Prof ist weisshaarig, runzlig und sehr gebildet.
Hinter ihm sind Bücher und vor ihm sind Bücher und neben ihm auch. Auf seinem Holzschreibtisch liegen Stapel von Manuskripten und vor ihm liegt ein Blatt. Darauf schreibt er. Mit Tinte und in Sütterlin. In seinen Denkpausen nippt er an einem Glas Rotwein und zieht an seiner Zigarre. Seit Stunden grübelt er nun darüber, was der Barockdichter Drusius mit "Wir sattelten die Rose"(1) meint oder ob es schlicht und einfach ein Schreibfehler war und "Rosse" heissen muss. Er kann lange grübeln, denn die für 2020 geplante Gesamtausgabe der Werke des Drusius (20 Bände, in Subskription 200.- pro Band) wird nicht mehr finanzierbar sein. Aber der Alte Prof wäre nicht der Alte Prof, wenn er eine Sache nicht zu Ende bringen würde.
Manchmal seufzt er, wenn er daran denkt, dass er morgen wieder in den Hörsaal muss und dozieren, denn er gehört zu den Leuten, die die Lehre für Zeitverschwendung und Studenten für Pack halten. Pack, dass ihm die Zeit stiehlt. Zeit, die er für Drusius bräuchte.
Es klopft.
Herein tritt Kurt Kuller, sein Assistent und bringt ihm ein Büschel ausgedruckte Mails, denn selbstverständlich kann der Alte Prof keinen Computer bedienen. Der Alte Prof nickt huldvoll. Als sich Kuller zum Gehen wendet, spricht der Alte Prof ihn an: "Kuller, wir haben doch neulich über das Zitieren gehandelt. Nun hat der Referent hier wieder so eine Studentenarbeit, wo alles falsch ist."  Der Alte Prof würde nie ICH sagen und spricht das Wort Studentenarbeit aus, als würde es sich um einen Pornoroman handeln. "Kuller, Sie nennen doch niemals den Verlag und schreiben brav Stadt und Jahr?" "Natürlich, Ihro Magnifizenz." "Und verwenden nie die gleiche Fussnote und schreiben brav immer ebenda und am anderen Ort?" "Natürlich, Ihro Magnifizenz." "Und Sie gehen auch nie in dieses Wikingerdings?" "Wikipedia, Ihro Magnifizenz." "Wie bitte?" "Das Onlinelexikon heisst Wikipedia." "Gut, also?" Kuller fasst sich ein Herz und sagt: "Doch, ich verwende es." "Kuller, Kuller, Sie bestürzen den Referenten, wie können Sie nur! Im Institut stehen 40 Meter Lexika und Sie schauen in diese Elektronikkiste!" Kuller gibt zu bedenken, dass wenn ein Autor stirbt, das Todesdatum am nächsten Tag in Wikipedia steht und erst viel später in irgendeinem Nachschlagewerk. Das lässt der Alte Prof nicht gelten, für ihn sind lebende Autoren sowieso Quatsch, er würde nie einen Grassroman, einen Genazinotext oder ein Lewitscharoffbuch auch nur zehn Meter an sich ranlassen,  seine Literaturgeschichte endet mit Lessing. Mürrisch schickt er seinen Assi fort und überlegt sich, ob er den Posten nicht doch mit einem weniger fortschrittlichen Menschen besetzen muss.
Der Alte Prof wendet sich wieder seinem Drusius zu und entscheidet sich für "Rose"(2). Denn erstens macht ein Drusius keine Fehler und zweitens kann er jetzt eine kühne Interpretation ins Nachwort setzen. Er ergreift das 1000seitige Standardwerk "Die Blume in der Lyrik des 17.Jahrhunderts"(3) und beginnt zu blättern. In drei Stunden wird er zu Tisch gehen, aber natürlich an seinen Stammplatz im Lamm, einem der wenigen Lokale, wo noch wirklich gutbürgerlich gekocht wird.
Und dort hat es auch niemand von den Leuten, die er am meisten hasst:
Studenten.

(1) Drusius, Kolatus Hermann: Neye frische teutsche Gedichtlein, hrsg. von A. Müller, Bottrop 1934, S. 137 ff
(2) ebd.
(3) Freimann, Hubert und Schlechtwanger, Michael: Die Blume in der Lyrik des 17.Jahrhunderts, Castrop-Rauxel 1955

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